Baumhirte


 

Bäume sind ganz besondere Lebewesen und waren schon immer Teil meines Lebens – verbrachte ich doch die meiste Zeit meiner Kindheit im Wald, lauschte dem Rascheln der Blätter und dem Flüstern des Windes...

 

Unser alter Nussbaum war stets das Wahrzeichen meiner Heimat gewesen, mein „Fels in der Brandung“, unter dem ich schrieb, las, mich an seinen kräftigen Stamm lehnte, Kraft tankte... Seine ausladenden Äste boten Schutz und Geborgenheit, er spendete Ruhe und vermittelte uns trotz – oder gerade wegen - seines Alters ein Gefühl der Beständigkeit, des unerbittlichen Trotzens der Naturgewalten, des eisernen Überlebenswillens. Selbst der Specht und die Stürme der Gezeiten vermochten es nicht, ihn zu überwältigen.

Er war der beschützende, mächtige und wunderschöne Riese, der bereits vor unserer Geburt unser zukünftiges Land mit seiner Existenz bereichert hatte. Hoch ragte er über alle anderen Bäume hinaus (und es sind viele!); zweifellos war er der ungekrönte König unter ihnen.

 

Der siebte Herbst war nun ins Land gezogen, ohne dass er eine einzige Nuss hervorgebracht hatte. Die Nüsse der Jahre zuvor trieben unterdessen jedoch eifrig aus und bemühten sich zu werden, wie ihr Vater. Doch es gab keinen Platz für sie, ich musste sie – wie jedes Jahr – schweren Herzens zurückschneiden. Jedoch immer in dem Glauben, dass ihr mächtiger Vater seinen Platz halten würde. Wie schnell und plötzlich sich doch alles ändern kann...

 

Heute wünschte ich, ich hätte einen seiner Nachkommen bewahrt. Bestimmt hat er es vorher gewusst und könnte er sprechen, hätte er vermutlich gesagt:

„Auch ich werde nicht ewig leben. Meine Zeit wird kommen, bald... Gib ihnen eine Chance, sie sind meine Kinder. Eines davon soll eines Tages meinen Platz einnehmen. In einem von ihnen werde ich weiterleben...“ Doch ich hatte nicht hingehört.

 

Der trockene Sommer und die plötzliche Eiseskälte haben ihm arg zugesetzt. Seine einstige Kraft schien mit jedem Tag mehr zu verblassen, als ob er langsam aber sicher seine Lebenskraft aushauchen würde.

Er war alt und schwach geworden; mit einem male begann er, bei jedem Sturm Äste abzuwerfen, sich zu erleichtern, Ballast loszulassen. Geduldig sammelte ich sie immer wieder ein und legte sie auf unseren Feuerhaufen, der im Frühling alles einstmals Grüne und lebendige zu Asche transformierte und der Erde wieder als Nahrung zur Verfügung stellte.

 

Gerade heute morgen war es gewesen, als ich noch gedacht hatte: „...unserem Nussbaum geht es gar nicht gut...“ Könnten Bäume bleich werden, er wäre es gewesen – und so sah er für mich aus. Bleich, erschüttert, abgekämpft, lebensmüde. Vielleicht hatte er mir in diesem Moment einen letzten Gruss geschickt, bevor er auch das restliche Leben in sich losliess und sich dem Sturm opferte.

Er mochte nicht länger standhalten, seine Wurzeln liessen einfach los. Und er fiel. Wenn so ein riesiger Baum fällt, bleibt die Zeit stehen, hört das Herz für einen Moment auf zu schlagen. Dennoch geschieht es einfach; die stummen Schreie verhallen in der Nacht. Bäume leiden und sterben still.

 

Liebster Baumhirte, Du wirst mir mit Deiner Anmut und Stärke immer in Erinnerung bleiben. Ich weiss nichts über das Seelenleben der Bäume, doch ich weiss, Deine Essenz ist heimgekehrt. Um irgendwann, in einem jungen Baum, zu neuem Leben zu erwachen....